Auszüge aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung „La Retirada exilis“ von J.M. Guerrero Medina

…In dieser Ausstellung sind Zeichnungen aus dem neuen Zyklus von 2008/09 zu sehen, in welchem sich der Künstler wiederum dem spanischen Exodus von 1939 widmet: düstere Bilder, kraftvoll und bedrängend zugleich, eine Erinnerung an eine der dunkelsten und schrecklichsten Epochen im Europa des 20. Jhs. – und es sind immer wieder die Künstler, die solche historischen Ereignisse lebendig erhalten, sie in die Gegenwart transportieren, weil es notwendig ist, gerade die bedeutungs- und verhängnisvolle Ereignisse der Menschheitsgeschichte zu vergegenwärtigen. Dies geschieht am eindringlichsten durch die Kunst, die mehr ausdrückt als bloße historische Fakten, weil sie das Recht hat, durch Parteinahme zu dramatisieren, den Wahrheitsgehalt mit eigener Interpretation zu steigern und dabei tiefer unter die Oberfläche zu gehen…

Guerrero Medina hat sich in seiner neuen Arbeit wiederum in vielfältiger Art und Weise den Bildern dieser Tragödie angenommen, hat alte Fotografien und Berichte studiert, um eine Grundlage für sein eigenes Bild zu finden. Als künstlerisches Medium wählte er die Malerei und - gleichberechtigt - die Zeichnung, arbeitete thematisch auf mehreren Ebenen: neben der Darstellung zentraler Massenereignisse und der Herausarbeitung von Menschengruppen in bestimmten Situationen erscheinen auch Einzelstudien von Menschen mit starker psychologischer Ausdruckkraft. Für alle Zeichnungen wählte Guerrero ein extremes, einheitliches Hochformat (177 x 80 cm), das alle Szenen wieder zusammenbindet und einen monumentalen Bilderfries entstehen lässt. In der Technik der Tuschzeichnung vermag er schließlich kräftige, malerisch-expressive Werte und starke Hell-Dunkel-Kontraste, aber mittels Farbverdünnung auch eine Reduktion auf nur noch schemenhafte Gesichtszüge zu erzielen…

Die Botschaft seiner Bilder ist nicht nur die Dokumentation einer historischen Tragödie, obwohl vieles darauf hindeutet – die erschrockenen, verzerrten Physiognomien, die Trauergesten, der Marsch von gesichtslosen, unendlich erscheinenden Menschenmassen, der Stacheldraht der Lager, die uniformierten Gestalten. Doch wer sich die Gesichter genauer anschaut, sieht zwar gezeichnete, aber nicht gebrochene Menschen, die im Schmerz zusammengerückt sind, aber in Solidarität überleben wollen.

Eine ziehende Masse, die aus der Heimat vertrieben ist, aber mit der Hoffnung auf ihre Freiheit weitermarschiert. Guerrero, dem die spanischen Kritiker in diesen Arbeiten Achtung und Würde vor dem Menschen und seinem Schicksal attestieren und die in seinem Werk mehr Epos als Dokument sehen, siedelt seine Bilder an zwischen der Anonymität der Massen und der Herausarbeitung der Einzigartigkeit der Individuen, welche aber zugleich wieder als typisch stehen können für das menschliche Drama dieser Zeit. Künstlerisch nimmt Guerrero die Traditionen großer realistischer Malerei wieder auf, wobei in Spanien immer eine besondere Nähe zur dramatischen und engagierten Schilderung sozialer und politischer Ereignisse bestanden hat – hier sei nur an die „pinturas negras“ von Goya oder an Picassos „Guernica“ erinnert…

Nach den früher ausgestellten Landschaftsbildern sehen wir in Deutschland nunmehr die andere Seite von Guerreros künstlerischer Arbeit, die aufzeigt, dass unsere Geschichte durch Kunst aktualisiert werden kann und dass ein Künstler sich nicht zu scheuen braucht, mit innerer Bewegtheit den Fragen nach Heimat und Nation, nach Ethik und Humanität nachzugehen.

Dr. Adam C. Oellers Stv. Direktor der Aachener Museen